Ein ornithologischer Spaziergang im Schlossgarten Stuttgart
Lou Bertalan

Es ist der letzte Tag im April 2025, aber die Vegetation im wärmeverwöhnten "Stuttgarter Kessel" ist seit dem Turbo der Klimaerwärmung des letzten Jahrzents um zwei Wochen voraus und zeigt sich längst wie im Wonnemonat Mai: Der Laubaustrieb begann in der zweiten Aprildekade, die Kastanien blühen etwa seit dem 18. April und ungefähr seit einer Woche auch der Flieder, der die vielen Stuttgarter "Stäffele" (Freilufttreppen) säumt. Ich steige aus einer der gelben U-Bahnen, lasse die verschlafenen und mürrischen Gesichter der zur Arbeit fahrenden Bevölkerung der Schwabenmetropole hinter mir, und tauche, kaum habe ich die Haltestelle Neckartor verlassen, ins satte Grün der Mittleren Anlagen ein. Mit Kamera und Teleobjektiv bewaffnet will ich heute etwas Fotomaterial für unser Stuttgart Urban Birding sammeln, das am 18. Mai hier im Schlossgarten zu ähnlich früher Morgenstunde starten soll.

Schon läuft eine der klassischen Vogelarten der Anlagen auf dem Gehsteig: eine Hohltaube. Aber noch ist das Licht nicht kräftig genug, um befriedigende Bilder machen zu können. Am Ufer des Paul-Bonatz-Sees laufen Teichhühner wenig scheu etwas zur Seite. Sie sind ein Paradebeispiel dafür, ob und wie Stadtökologie funktioniert – es brüten weit über hundert Paare auf dem Stadtgebiet und hier im "Grünen L" sowieso, meist hoch oben in Trauerweiden, damit sich die ebenso urbanen Füchse nicht an ihrem Nachwuchs bedienen. Und schon höre ich auch das schabende "Chchrrr" einer Nilgans über mir – diese seit gut einem Jahrzehnt auch hier verbreitete (und invasive!) afrikanische Halbgansart liebt die zweihundert Jahre alten Platanen mit ihren oft sehr geräumigen natürlichen Höhlen. Ein feines Zirpen im Himmel verrät, dass die Mauersegler eingetroffen sind, sehr kräftig und melodiös dagegen hört sich der sprudelnde Gesang der Mönchsgrasmücke im Buschwerk zur Straße hin an.

Ein breites Brückchen für Fußgänger- und RadfahrerInnen geht über die Querverbindung zur Heilbronner Straße: hier geraten mehrere Stieglitzpaare in einen lautstarken Gesangsdisput. Aber nun bin ich endlich in den Unteren Anlagen, wo die lange Platanenallee sich bis zu den Mineralbädern hinzieht - sie beherbergt die eigentlichen Stars dieses Parks. Zunächst wird aber ein Starenmännchen abgelichtet, das vom Rasen Insektenlarven für den Nachwuchs oder das brütende Weibchen sammelt. Das nächste Nilganspaar und ein Stockerpel stehen daneben.

Überall ertönt nun das "Wuu-úp wuu-úp" der balzenden Hohltauben, immer wieder drehen sie ihre Runden in demonstrativen Bogenflügen um die Baumriesen oder zanken sich laut flatternd im Geäst – ich kenne in Süddeutschland keinen Ort mit einer so hohen Brutdichte von Hohltauben wie im Schlossgarten und im Rosensteinpark Stuttgart.


Und das dank der alten Platanen aus der Zeit Schillers, deren zahlreiche Baumhöhlen eine ganze Reihe an Vogelarten als Brutstätte nutzen: Nilgans, Waldkauz, Hohl- und Straßentauben, Dohlen und eben die Stuttgarter Stars, deretwegen ich heute hauptsächlich da bin: Gelbkopfamazonen! Das ist eine große, kräftige und kurzschwänzige Papageienart aus Mittelamerika, die seit 1986 in Stuttgart brütet und mit einer seit Jahren konstanten Population von knapp fünfzig Individuen mittlerweile zur "Kategorie C" der eingebürgerten Vogelarten Deutschlands gehört. Viele "Lister" (also Artensammler) kommen sogar aus dem Ausland nach Stuttgart, um einen Haken hinter Amazona oratrix zu machen, wie diese bedrohte Vogelart wissenschaftlich heißt.

Schon klingen aus einiger Entfernung ihre sonoren Rufe – etwa wie "kirliú!", aber auch krächzende Laute sind dabei. Und gerade rechtzeitig erscheint das eine Paar, das direkt über dem vielbegangenen und -befahrenen Hauptweg brütet. Während die eine Amazone in dem breiten Astloch der Platane verschwindet, beäugt mich der oder die Aufpasser(in) misstrauisch. Ich gehe ein wenig auf Abstand und kann nun ein paar Bilder von dem überwiegend grünen Papagei mit dem zitronengelben Kopf und dem markanten roten Fleck im Flügel schießen. Nach einer Weile wird er (ich vermute, es ist der Mann) müde und macht ein Nickerchen.


Leider ist die Art vom Aussterben bedroht: In ihrer Heimat – Südmexiko, Belize, Guatemala und Honduras – werden die Jungen immer noch illegal aus den Nestern entnommen, da sie auf dem Schwarzmarkt hohe Preise erzielen. Es gibt nur noch wenige tausend Exemplare in freier Wildbahn! Umsomehr ist die Stuttgarter Population schützens- und liebenswert. Mehr Informationen zu diesen wunderbaren Bewohnern der Stadt, auch zur Geschichte der Besiedlung in den Achtziger Jahren gibt es hier: https://www.stuttgarter-amazonen.de. Ich treffe natürlich auch Bianca Hahn, die wie jeden Morgen mit ihrer Kamera im Park unterwegs ist, jede einzelne Amazone "persönlich" kennt und sie beim Namen nennt – auf sie geht der Freundeskreis und die Schutzinitiative zurück, die in obigem Link zu finden sind. Halsbandsittiche - das kann jede westeuropäische Großstadt – nein: wir in Stuttgart "können Amazonen"!


Weiter, am Quellteich, sehe ich, dass die Teichhuhnküken geschlüpft sind: kleine schwarze Daunenbällchen, die eifrig mit gespreizten Flügelchen ihre beiden fütternden Eltern anbetteln – völlig frei am befestigten Teichufer herumlaufend. Dabei fallen die abstehenden, spornähnlichen "Daumen" an den Stummelflügelchen auf.

Beim Schwefelsee überraschen gleich zwei ornithologische Highlights: Das durchdringende "Hididiie!" verrät einen Flussuferläufer, der auf dem Holzsteg gelandet ist und abzuschätzen versucht, ob ich eine Gefahr darstelle. Super, eine Limikole mitten in der Stadt!

Dann landet ein Gänsesägerpärchen und sieht sich um – wohl nach einem geeigneten Brutbaum in der Nähe des Teichs. Seit letztem Jahr brütet auch diese Art, die im gesamten Neckarraum in Ausbreitung begriffen ist, im Schlossgarten – toll. Der Im Winterhalbjahr sitzt hier auch öfters der Eisvogel auf Ansitz. Und all das lässt sich hier in weniger als zehn Metern Entfernung bewundern.

Jetzt gibt es plötzlich mächtig Streit unter den Nilgänsen auf der Esche über dem Schwefelsee – ein lautes (und wie ich finde, eher unangenehmes) nasales Gegacker und Gefauche. Ein Eindringling macht hier gerade den Rambo, scheucht ein dort ruhendes Paar vom dicken Ast runter – und unten geht der Zirkus weiter, mit leicht geöffneten Flügeln jagt Mister Testosteron hinter den beiden her.



Ich suche nach einem ruhigeren Plätzchen und entdecke zu meiner Freude einen sehr grauen Zilpzalp, der wenige Meter von mir im künstlich angelegten "Ried" zwischen Seggen und Binsen nach Nahrung (oder einem Brutplatz?) sucht. Bei so grauen Individuen schrillen bei jedem Birder sofort die Alarmglocken – ist es ein sibirischer? Leider nein – der Kontaktlaut klingt ganz europäisch und auch die pfirsichfarbenen Wangen fehlen bei diesem Individuum.

Und wieder stehe ich vor einer Amazone, die sich an den Blüten einer Roßkastanie gütig tut. Trotz ihrer bedeutenden Größe sind diese "Grünlinge" auch mit dem Fernglas oft kaum im Laub der Bäume (vor allem der Platanen) auszumachen und spielen "Pickaboo!", wie der Amerikaner sagt.
Ein weiterer Hotspot im "Grünen L" ist der Pumpteich der Wilhema im Rosensteinpark. Hier sitzen manchmal Mandarinenten unter den Bäumen im geschützten Bereich am bewaldeten Ufer. Mein Hauptaugenmerk gilt aber dem Zwergtaucherpaar, das hier alljährlich brütet. Ich sehe nur einen der Altvögel, wahrscheinlich ist der andere schon am Brüten. Mehrfach kann ich auch den Balztriller hören, vermutlich vom Männchen, das damit seine Präsenz und ein besetztes Revier anzeigt.
Auf dem Pumpteich – ein adulter Zwergtaucher im Brutkleid.
Mit reichlich Fotomaterial und knurrendem Magen begebe ich mich bei den Inselteichen zur Haltestelle Mineralbäder, wo ich nochmal die Mauersegler unter einem tiefblauen Frühlingshimmel verfolge. Heute wird schon mal an der Dreißig-Grad-Grenze gekratzt. Dieser Morgenspaziergang wird nur der erste von drei Orten sein, an denen ich am 18. Mai beim Stuttgart Urban Birding guiden werde – es warten noch die Halsbandschnäpper am Bärensee, die Alpensegler an der Staatsgalerie und die Zaunammer am Württemberg bei Untertürkheim. Ich würde mich freuen, wenn viele Naturbegeisterte an diesem Event teilnehmen würden!